Hauptsache gesund - Dr. Wofgang Raab bei Carsten Lekutat

Heterophorie – das versteckte Schielen

Bohrende Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel: Mit solchen Beschwerden sucht wohl kaum jemand zuerst einen Augenoptiker auf. Dabei helfen Spezialbrillen oft, jahrelange Leidensgeschichten zu beenden. Heterophorie ist eine Funktionsstörung der Augenmuskulatur. Sie kann bei nahezu jedem Menschen auftreten, aber wenige Spezialisten kennen sich damit aus.

Als Tanja Woerlein in die Schule kam, fing es an und wurde besonders schlimm beim Lesen. Dann verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen. Lernen war schwierig: "Ich habe sehr schnell Kopfschmerzen bekommen, meist hinter den Augen und die Augen brannten auch immer“, erklärt sie rückblickend. Tanjas Mutter litt unter ähnlichen Symptomen. Heterophorie, auch Winkelfehlsichtigkeit genannt, war bei ihr festgestellt worden. Könnte ihre Tochter diese unsichtbare Fehlstellung der Augen geerbt haben? Der Verdacht bestätigte sich. Mit der passenden Brille sollten die Beschwerden verschwinden, hieß es. Doch sie blieben trotz Brille und verstärkten sich noch. Tanja fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Oft sah sie Doppelbilder und konnte Entfernungen schlecht abschätzen. Sie lebte permanent mit dem Gefühl, überfordert zu sein, nicht zu schaffen, was anderen leicht fiel.

Als die Schmerzen sich ausbreiteten und sich zusätzlich die Sehschärfe verschlechterte, erhielt sie eine neue Brille. Diesmal von einem anderen Optiker. "Auch er behauptete, sich mit Heterophorie auszukennen. Doch genau wie der erste, hatte er meine Augen offenbar falsch oder nicht sorgfältig genug ausgemessen", sagt Tanja Woerlein. Schließlich wurden die Schmerzen chronisch. Als Teenager begann sie regelmäßig starke Schmerzmittel einzunehmen, eine Zeit lang sogar täglich. Erst in ihrem 24. Lebensjahr fand sie einen Augenoptiker, der die Messungen korrekt durchführte und ihr eine Brille anfertigte, die das Leiden endlich beendete. Sie ist heute beschwerdefrei. 

Überlastung von Gehirn und Augenmuskulatur

"Wer Leidensgeschichten von Menschen mit Heterophorie hört, könnte meinen, es handele sich um eine seltene Erkrankung", sagt Dr. Wolfgang Raab, einer der wenigen Augenärzte, die sich auf diese Funktionsstörung der Augen spezialisiert haben. "Denn oft dauert es viele Jahre, bis die wirkliche Ursache der zum Teil unerträglichen Symptome gefunden ist, und dann noch einmal lange Zeit, bis den Betroffenen wirksam geholfen wird", beschreibt er die Situation vieler Patienten. Dabei könne man davon ausgehen, dass eine Fehlstellung der Augen viel verbreiteter sei, als allgemein angenommen. "Faktisch kein menschliches Augenpaar steht im richtigen, ideal ausgerichteten Winkel zueinander. Augen sind ja kein Produkt deutscher Ingenieure, sondern lebendige Organe", meint der in Frankfurt am Main niedergelassene Ophthalmologe.

Etwa ein Drittel aller Menschen, so schätzt er, habe mehr oder weniger Seh-Stress infolge dieser Fehlstellung. Sie sei aber nicht das gleiche wie Schielen. "Die Abweichungen nach innen, außen, oben, unten oder gleichzeitig in verschiedene Richtungen können mitunter besonders drastisch sein. In solchen Fällen sind sie häufig auch für andere sichtbar und wir sagen, dass die Person schielt bzw. einen 'Silberblick' habe. Wer schielt, müsste eigentlich doppelt sehen. Damit das nicht passiert, schaltet das Gehirn der Schielenden - oft bereits im Kindesalter - eines der Augen quasi ab", erklärt der Mediziner. Es habe dann häufig eine sehr schwache Sehleistung und werde vom Gehirn nur selten angesteuert. So mache das Schielen in der Regel keine weiteren Beschwerden. Das sogenannte "versteckte Schielen", das man besser "verstecktes Abweichen von der Idealstellung der Augen" nennen sollte, verursacht hingegen oft starke Beschwerden. Das Gehirn des Betroffenen könne nicht einfach ein Auge "ausschalten" - sondern es versuche unablässig, die Stellung beider Augen zueinander zu korrigieren. Das sei eine enorme Belastung, sowohl für das Gehirn, als auch für die Augenmuskulatur. Zwar sei Heterophorie an sich keine Krankheit, ergänzt der Arzt, sie könne aber durchaus krank machen.

Ein Prisma sorgt für deckungsgleiche Bilder.
Ein Prisma sorgt für deckungsgleiche Bilder.

Oft chronische Beschwerden

"Es fing damit an, dass ich den Kopf immer schief hielt", erzählt ein Betroffener. "Ich meinte, dass ich damit die Schiefstellung meiner Augen etwas ausgleichen und besser sehen könne", beschreibt er. Für Heterophorie sei das eine sehr typische Zwangshaltung, bestätigt Augenoptikermeisterin Elke Brandt aus Hannover. Ein permanent geneigter Kopf kann unter anderem zu chronischen Nackenschmerzen führen, sich aber auch destabilisierend auf das gesamte Knochengerüst auswirken. Nicht wenige Betroffene klagen über sogenannte Clusterkopfschmerzen oder Migräneanfälle. "Ich habe Kunden, die haben zuvor unterschiedliche Fachärzte aufgesucht, sich im MRT durchleuchten lassen, Schmerzmittel eingenommen usw. Nur die Augen werden oft nicht untersucht und falls doch, findet der Arzt keine Indizien für eine Erkrankung", so die Augenoptikerin.


Elke Brandt ist eine von geschätzt etwa 300 Augenoptikermeisterinnen, die sich auf Heterophorie spezialisiert haben und über geeignete Testverfahren verfügen. Das sind gerade mal 2,5 Prozent der rund 12.000 hiesigen Augenoptiker. Weshalb so wenige? Dafür gibt es mehrere Gründe. Das fachgerechte Ausmessen beider Augen (binokularer Test) kann bis zu zwei Stunden dauern. Dass eine Fachkraft einem einzigen Kunden eine so lange Zeit widmet, sei nur in wenigen Augenoptikergeschäften denkbar. Hinzu komme eine gewisse Befangenheit unter den Augenoptikern, denn immer wieder sehen sie sich Angriffen von Augenärzten ausgesetzt. 

Streit um Wirksamkeit von Prismenbrillen

Dr. Wolfgang Raab war staatlich geprüfter Augenoptiker und Augenoptikermeister, bevor er sich entschloss, noch einmal mehrere Jahre Ausbildung anzuhängen. Er beendete sein Studium als Facharzt für Augenheilkunde. Somit steht er gewissermaßen über den Dingen, wenn er den jahrzehntelangen Streit zwischen der Zunft der Augenärzte gegen die Zunft der Augenoptiker beschreibt. "Bereits in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatten sowohl Augenärzte als auch Augenoptiker damit begonnen, Tests zu entwickeln, mit denen die Stellung der Augen zueinander gemessen werden konnte. Dabei zeigte sich eine Methodik in den 1960er-Jahren besonders geeignet, die auf Hans-Joachim Haase zurückgeht, erklärt Dr. Wolfgang Raab.

Haase war bis 1981 Dozent an der Staatlichen Fachschule für Optik und Fototechnik in Berlin. Seine Mess– und Korrektionsmethodik ("MKH") wird heute noch angewendet. Ziel der aufwändigen Messungen ist die Anfertigung von Spezialbrillen, sogenannter Prismenbrillen. Ein Prisma bricht das Licht in besonderer Weise. Prismatisch geformte Augengläser sind an einer Seite deutlich dicker. Wer sie trägt, kann trotz abweichender Augenstellung entspannt und ohne Doppelbilder sehen. Zudem entlasten solche Brillen Augenmuskulatur und Gehirn. So können die Betroffenen wieder beschwerdefrei leben. Doch der Eifer der Augenoptiker weckte den Argwohn mancher Augenärzte. "Augenärzte lernen in ihrer Ausbildung häufig sehr wenig von Heterophorien, das weiß ich aus eigener Erfahrung", berichtet Dr. Raab.


"Deshalb behaupteten viele, Augenoptiker würden mit der Winkelfehlsichtigkeit etwas erfinden, das es in der medizinischen Optik gar nicht gäbe. Prismenbrillen seien sozusagen ein überteuerter Humbug, der sogar schädlich wäre. Sie würden die Fehlstellung der Augen verstärken und dazu führen, dass die Betroffenen sich einer Schieloperation unterziehen müssten", erklärt er. Behauptungen, gegen die einzelne Augenoptiker vor Gericht zogen. Es gab Urteile zugunsten der einen wie der anderen Seite. Bis das Oberlandesgericht Frankfurt am Main, mit Urteil vom 27. September 2006 (4 U 19/06), sinngemäß feststellte: Prismenbrillen sind keine Ursache für Schieloperationen. Ein Siegpunkt für die Augenoptiker. Doch die jahrelangen Auseinandersetzungen hatten die Branche längst nachhaltig verunsichert. Auch das ist ein Grund, weshalb sich bislang nur wenige darauf spezialisiert haben und Betroffene lange suchen müssen, um einen Spezialisten zu finden.  

Üben statt Brille - mit dem "Visual Training"

Ein therapeutischer Ansatz kommt aus den USA und wird Visual Training genannt - nicht zu verwechseln mit Sehtraining, das in sogenannten "Sehschulen" angewandt wird. Visual Training geht davon aus, dass die Fehlstellung der Augen durch kontinuierliche Übungen korrigiert werden kann. Langfristig könne das eine Prismenbrille überflüssig machen. "Wir machen auch binokulare Messungen, beobachten darüber hinaus aber die Motorik der Augen, sowie Wesen und Verhalten des Klienten", erläutert Marco Schätzing seine Herangehensweise. Er hat eine Qualifikation zum Funktionaloptometristen und praktiziert in Leipzig.

Ein Beispiel aus seiner Praxis: "Wenn sich jemand immer selbst unter Druck setzt, sehr organisiert und penibel ist, dann findet das oft seinen Ausdruck in einer bestimmten Fehlstellung der Augen. Wir üben dann nicht nur Augenbewegungen, sondern auch Entspannungstechniken und arbeiten an eingefahrenen Gewohnheiten", erzählt Marco Schätzing aus seinem Therapiealltag. Das wirke sich positiv auf die Heterophorie aus. Das Training dauert mehrere Monate. Die Übungen müssen regelmäßig durchgeführt werden - fünf bis sechs Tage pro Woche, mindestens 15 Minuten lang. Oft würden sich bereits nach einem halben Jahr Besserungen einstellen. Auch die quälenden Symptome, wie Kopfschmerzen, würden allmählich verschwinden,.

Anlaufstellen für Betroffene

  • Die Internationale Vereinigung für binokulares Sehen. Hier finden Sie eine Liste der Augenoptiker, Optometristen und Augenärzte, die für binokulare Sehtests ausgebildet sind und sie anwenden.
  • Wissenschaftliche Vereinigung für Augenoptik und Optometrie. Hier finden Sie eine Liste der Funktionaloptometristen, die Visual Training anbieten.